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Das ganze Leben


Meine lang herbeigesehnte Reise nach Berlin geht beinahe zuende. Der zehnte Tag ist angebrochen. Am Abend steht eine Einladung in Schöneberg auf dem Programm. Ich habe schon viele alte Freunde und Bekannte wiedergesehen, einige nach fast dreißig Jahren. Mit ihnen habe ich gemeinsam in Potsdam das Abitur gemacht, lange vor der Wende. 1983 war ich in den Westen und schließlich nach Holland gegangen und hatte sie nie wiedergesehen. Unsere Begegnungen verliefen sehr unterschiedlich, von zögerlich-scheu bis herzlich-vertraut, aber sie alle sind für mich ungeheuer wertvoll. So manches gilt es in den kommenden Tagen seelisch zu verarbeiten. Meine vielen neuen Fotos können dabei helfen.

Jetzt bin ich schon ein paar Stunden zu Fuß unterwegs durch Berlin, bin wieder einmal unter dem Brandenburger Tor durchgelaufen, habe das sonnenübergossene Holocaust-Denkmal bestaunt, die vorgenommene Berliner Weiße mit Schuss samt Currywurst erledigt und mich beim verschwundenen Führerbunker gegruselt.

Auf der Wilhelmstraße spenden große Bäume endlich den nötigen Schatten. Ich lasse mich auf der Bank vor einer Eisdiele nieder, schicke eine SMS an meine Tochter in Holland: „Mir geht es gut, bin gerade beim Holocaust-Denkmal, Grüße, Kuss.” Mein Fotoapparat mit allen Eindrücken der vergangenen Tage auf der Speicherkarte liegt links neben mir, rechts meine große, schwere hellbraune Tasche mit den roten Filzblumen, die ich hier tagtäglich herumschleppe, mit den Geschenken für die Freunde, mit dem Fotoalbum von Zuhause und allem, was man so braucht. Ich bin müde, es ist warm, das Leben drückt ein bisschen. Ich wandere schließlich weiter, kaufe einen neuen Stadtplan, denn es gibt hier so viele neue Straßenschilder: Hannah-Arendt-Straße, Cora-Berliner-Straße. Meine Tochter antwortet nicht, und ich rufe meinen Mann an: „Wie läuft es zu Hause? Es geht mir hier gut. Ich laufe ein bisschen herum. Die Sonne scheint. Übermorgen komme ich zurück.”

Ein interessantes Gebäude taucht vor mir auf. Ich greife zu meinem Fotoapparat. Aber wo ist der nur? Ich stelle die Tasche auf den Boden, wühle darin herum. Es ist ein großer Apparat, zu groß, um sich einfach zu verstecken. Ich fühle Panik aufkommen. Die Bank vor der Eisdiele! Ich fange an zu rennen. Ein Junge auf Inline-Skates kommt mir entgegen: „Bitte sieh doch mal auf den Bänken nach, ob da irgendwo ein Fotoapparat liegt!” Er saust davon, ich renne, er kommt zurück. Nichts. Ich renne weiter, vorbei an der Eisdiele, um die Ecke zum Ausstellungsgebäude „Mythos Germania”. Da hatte ich ihn ganz kurz auf die Bank gelegt. Ich zweifle an meinem Gedächtnis, und ich frage dort nach. Nichts. Ich renne weiter, an den Cafés und Terrassen vorbei, vorbei am Holocaust-Denkmal. Vielleicht sehe ich jemanden mit meinem Apparat vorbeikommen? Oder jemand sucht mich, die Besitzerin? Ich heule, ich hyperventiliere, oh Gott, ich drehe fast durch! Eine ganze Runde gerannt. Nichts. Ich bin außer mir, bekomme kaum noch Luft, fühle die Blicke der Leute. Ich bin eine Verrückte.

Wieder bin ich bei der Eisdiele, frage die Leute. Sie schütteln die Köpfe. Nichts. Ein junger Mann kommt humpelnd auf mich zu und fragt: „Suchen Sie den Fotoapparat? Den habe ich einem Ehepaar gegeben. Die haben hier gesessen. Ich so: ‚Ist das Ihrer?’ und sie: ‚Hmm’ und nehmen ihn an. Ich denke, die freuen sich ja gar nicht und sagen auch nicht danke. Mensch, ist das blöd von mir! Die kamen mir schon so komisch vor. Diese Schweine!” Ich heule noch heftiger und hyperventiliere immer noch. „Wer…macht…denn…sowas!” rufe ich. „Mein ganzes Leben ist da drin! Das ist ganz furchtbar! Alles ist weg!” Ich kann mich in bestimmten Situationen recht dramatisch ausdrücken. Der Mann versucht mich zu beruhigen: „Ruhig, ganz ruhig, warten Sie doch mal, ich überlege ja schon!” Aber alle Spannungen, Aufregungen und Emotionen der letzten Tage bahnen sich gleichzeitig den Weg durch meine Kehle und meine Augen. Passanten stehen um mich herum, hilflos. Der Eisverkäufer sagt: „Das Ehepaar ist schon eine halbe Stunde weg,” und meine letzte Hoffnung schwindet.

Aber der Mann gibt noch nicht auf. „Das sind doch Touristen,” überlegt er „und die treiben sich doch sicher noch irgendwo hier herum. Kommen Sie mal mit!” Er humpelt mit mir um die Ecke, Richtung Holocaust-Denkmal. Es geht nicht vorwärts. Ich frage: „Wie sehen die denn aus?” „Das weiß ich doch auch nicht mehr!” antwortet er. „Mensch,” fährt er fort „wie blöd von mir, dass ich denen den Apparat gegeben habe. Diese Schweine!” „Das ist nicht Ihre Schuld! Es ist meine Schuld! Ich habe ihn liegenlassen,” versuche ich jetzt ihn zu beruhigen. „Aber warum haben Sie denn auch Ihr ganzes Leben in diesem Apparat! Sowas schleppt man doch nicht mit sich herum!” schimpft er. Irgendwie hat er ja recht, aber es ist müßig, ihm das alles jetzt zu erklären.

Inzwischen sind wir beim Denkmal angelangt. Er klopft an die Türen zweier geparkter Reisebusse und fragt, ob jemand einen Fotoapparat gefunden hat. Nichts. Natürlich, wer würde sich schon freiwillig melden? Es ist ein ziemlich sinnloses Unterfangen. „Wissen Sie was? Geben Sie mir doch mal Ihre Handynummer!” schlägt er vor. „Ich bin hier ja immer, und vielleicht sehe ich diese Leute doch nochmal.”

Gerade ziehe ich mein Handy aus der Tasche, als er ruft: „Da sind sie ja! Ich habe sie!” So schnell er kann, humpelt er auf die beiden Touristen zu, die sich zwischen den Quadern des Holocaust-Denkmals seelenruhig meine Fotos ansehen, baut sich vor ihnen auf und schreit: „Was machen Sie denn da? Das ist ja gar nicht Ihrer! Geben Sie den mal ganz schnell zurück! Gucken Sie doch mal, die Dame sucht ihren Apparat überall! Die weint ja schon! Der ist für sie ja ganz wertvoll! Warum sagen Sie denn, er gehört Ihnen? Macht man sowas?” Und er nimmt den konsternierten Menschen, die kein Wort seiner Ansprache verstanden haben, den Apparat ab und läuft mir entgegen. „Hier ist er wieder!” ruft er und strahlt. Der erschrockene Spanisch sprechende Tourist kommt auch zu mir. Er will mit mir reden, aber ich kann gar nicht sprechen, Deutsch schon nicht und erst recht kein Englisch. Ich stammle nur, ob er meine Fotos gelöscht hat. Er verneint. Ich atme auf, klemme den Fotoapparat fest an mich und fange wieder an zu heulen. „Sie freuen sich ja so, sie weinen ja richtig vor Freude!” frohlockt mein Helfer. „Das werde ich ja mein ganzes Leben nicht vergessen! Mensch, diesen Tag werde ich nie vergessen! Und wie Sie sich freuen! Aber bitte versprechen Sie mir eins: Wenn Sie nach Hause kommen, laden Sie dann Ihre Fotos auf Ihren Computer rüber! Sie können doch nicht Ihr ganzes Leben da herumschleppen! Wer macht denn auch sowas?” Er klopft mir abwechselnd auf die Schulter und aufs Knie.

„Wissen Sie,” versuche ich es ihm zu erklären, „ich habe auf dieser Reise so viele Menschen getroffen, die ich ewig, manche sogar fast dreißig Jahre, nicht gesehen hatte. Eine Jugendliebe war dabei, Freunde, die mir lieb sind und die ich vermisst hatte. Mein früherer Chor. Von allen hatte ich Fotos gemacht. Und jetzt wäre ich fast mit leeren Händen nach Hause gekommen! Das hätte ich ganz schrecklich gefunden!”

Ich will ihm fünfzig Euro geben, aber das lehnt er ab. Ich stopfe sie ihm kurzerhand in die Hosentasche. „Das ist echt nicht nötig!" wendet er ein. „Aber ich will das so," erwidere ich. „Sonst muss ich mir mein ganzes Leben vorwerfen, Ihnen nicht richtig gedankt zu haben." Dieses Argument erscheint ihm einleuchtend, da wir nun schon die ganze Zeit vom ganzen Leben sprechen.

Er geht kurz weg, um mir einen Kaffee zu holen, auf den Schreck. „Sie sind ein Engel!” sage ich und meine von Herzen, was ich sage. „Gott hat geholfen!” antwortet er. Er erzählt von seinem Unfall vor einem halben Jahr, seinem gebrochenen Sprunggelenk, jetzt mit Schrauben und Platten fixiert, und er erzählt, dass seine kleine Tochter morgen Geburtstag hat. Aysu heißt sie. Das ist Türkisch für Mondwasser. „Ich kaufe ihr von dem Geld ein schönes Geschenk und sage ihr, dass es auch von Ihnen ist. Diesen Tag werde ich nie vergessen, solange ich lebe.”

Dann verabschieden wir uns. „Bleiben Sie, wie Sie sind!” wünsche ich ihm und renne ihm schließlich noch hinterher, um ein Foto von meinem Retter zu machen.


© Eva-Maria Kintzel van Stokkum, 2009

Das Holocaust-Denkmal in Berlin 2009


Insel im Herbst

Herbst, Insel - beides erinnert an Stille, Abgeschiedenheit, Einsamkeit. Herbst ist Abschied - Abschied von der Sonne, der Wärme und den Vögeln, die ihr nachfliegen. Und Abschied wiederum heißt oft Tränen vergießen. Sie glitzern an der Fensterscheibe, funkeln in der Sonne, die sie trocknet; das gibt Hoffnung - eine Hoffnung auf ein Wiedersehen, auf die wiederkehrende Wärme der Sonne.

Ich nahm auch Abschied von Zuhause in diesem Herbst und zog auf die Insel - diese Insel, die mit dem Festland durch eine Holzbrücke verbunden ist. Jede Berührung mit den Menschen der Stadt erfolgt über diese Brücke oder über die Fähre, die an Fahrzeiten gebunden ist und die jederzeit ausfallen kann - aus technischen Gründen. Es sind zu wenige Brücken; die, die man mühsam baute, sind zart und zerbrechlich und zittern in ihren Halterungen - Spinnweben, die der Herbststurm zerreißt, der so Einsamkeit bringt.

Wir glauben, nicht einsam zu sein. Wir leben auf der Insel zusammen in einer Gemeinschaft. Doch einsam ist im Grunde genommen jeder. Nicht nur, weil es Herbst ist, und Herbstwetter eine traurige Stimmung verbreitet, sondern weil wir uns einfach noch kennenlernen müssen. Und auch dann noch sind wir alle einsam, so wie jeder Mensch - im Herbstnebel, der den anderen unsichtbar macht. Hermann Hesse beschrieb dieses Phänomen so:

Seltsam, im Nebel zu wandern,

Leben ist einsam sein.

Kein Mensch kennt den andern.

Jeder ist allein.

Eine Insel lebt von Brücken wie der Mensch. Der Mensch ist eine Insel im Herbst: einsam, undurchsichtig, launisch, welkend und abhängig von anderen. Es ist überhaupt eine Schwäche des Menschen, abhängig zu sein. Sehr lange nach seiner Geburt noch ist er abhängig von seiner Mutter. Wenn er einsam ist und ohne die innerliche Wärme, die ihn umgibt und die er braucht, geht er kaputt, auch noch im Alter und gerade dann wieder verstärkt. Es gibt Menschen, die vereinsamen, entweder weil sie wie eine Insel sind, die von so viel Wasser umgeben ist, daß niemand an sie herankommt, oder weil in ihrer Umgebung ein eiskaltes, starres Klima herrscht, oder weil sie sich von anderen Inseln mehr und mehr entfernen. Es gibt Menschen, die sterben, weil sie nicht mehr gebraucht werden. Diese Menschen gehen auf das "Jahresende" zu. Sie welken, sie erstarren, sterben ab und sind schließlich grau, kalt, kahl und steif - wie die Bäume - oder besser die Blätter, die welken und abgeworfen werden von den Bäumen, damit Kraft für neue, junge gespeichert werden kann.


Hier auf der Insel werden alte Diakonissen gepflegt von ihren Schwestern. Ihr ganzes Leben lang haben sie versucht, ihrem Leben und dem Leben derer, denen sie zu helfen versuchten, einen Sinn zu geben. Die Schwestern hier sind wohl nicht einsam, hoffentlich. Für sie kann der Herbst trotz allem Freude sein, Wärme, Sonne, und er kann ein Gefühl der Geborgenheit geben Geborgenheit, die ruhig macht und die die Vorfreude auf das Kommende stärkt.

Der Herbst auf einer Insel kann Freude bringen. Sonnenstrahlen fallen durch das bunte Laub der Bäume. Die wunderbare Abstimmung der herbstlichen Farbtöne kann begeistern. Das Zusammenspiel der verschiedensten Formen und Farben mit der untergehenden Sonne strahlt eine Art Wärme aus, die einen verwirren und aufwühlen kann; der wilde, kühle Wind tut das Seinige. Ich erschauere vor dem doppelten Regenbogen, der sich genau symmetrisch über der Kirchturmspitze der Insel wölbt. In erschreckend hellen Farben zeigt er sich an dem strahlend blauen Himmel und spannt sich über die bunte Blätterwelt, in seiner Mitte eben die Kirche. Es scheint, als wäre er ein Zeichen, als segnete er die Insel, die in dem hellsten Lichte steht. Jenseits des Wassers ist die Welt grau vom Regen. In den grellsten Farben - die Insel - bunt und unruhig, beunruhigend - eine Insel im Herbst...


© Eva-Maria Kintzel, 16 Jahre, im ersten Monat am Kirchlichen Oberseminar auf der Insel Hermannswerder


Bericht von Eva-Maria Kintzel (10 Jahre alt) am 10. August 1971

Heute fuhren Opi [Pfarrer i.R. Walter Kowalewsky aus Wandlitz, wohnte damals schon in der Bundesrepublik], Papi, Tinchen [meine jüngste Schwester Katharina] und ich zur Bernauer St. Marienkirche. Wir hielten vor dem Haus, in dem Herr Pfarrer Hasse wohnt. Wir stiegen aus, und Papi ging in die Küsterei, um sich die Kirchenschlüssel zu borgen.

Dann gingen wir in die Kirche, durch das älteste Kirchenportal in den Teil der Kirche, wo früher die anderen Kirchen standen (Kirche des 12. Jahrhunderts, Basilika, Notkirche). Dann sahen wir uns die Bilder von Christiani und Tobias Seiler an. Dann kamen wir an dem Taufkelch und an dem Beichtstuhl vorbei. Danach an den Epitaphgemälden „Jesus überwindet den Tod“. Dann an den Epitaphien von Tobias Seilers Kindern. Ich machte den Vorschlag, die Steine unter das Bild T. Seilers zu stellen.

Dann gingen wir in die Brauthalle und sahen uns das Mosaik an. Dann gingen wir noch einmal rund um die Kirche herum. Wir sahen uns die Harlekine an. Auch sahen wir uns die Bilder von der Kirche und die Grundrisse aller vorhergehenden Kirchen an. Dann gingen wir an den geschnitzten Säulen vorbei und unter den Bildern der Empore entlang. Dann wieder vorbei an der ältesten Tür und an den alten Bänken. Danach sahen wir uns die alte Plastik an von Jesus im Garten Gethsemane. Pfarrer Hasse hatte gesagt, im Hintergrund wäre Bernau. Da wäre auch zu sehen: die Waschspüle, die Giebel einer alten Kirche.

Danach gingen wir in das Kirchenmuseum. Wir betrachteten die alten Schnitzfiguren der alten Schererorgel. Auch Orgelpfeifen sahen wir. Zwei Schwerter standen eingewickelt mit Tuch in einer Ecke. Davor standen Kästen mit alten Münzen. In einem alten Koffer sahen wir Schützenkleidung. Wir sahen auch Leuchterengel, Bilder (Abendmahl, Jesus heilt das kranke Kind). Papa entdeckte kleine Bilder (von Christian Schulz‘ Opa, Tobias Seiler und anderen Bernauer Pfarrern). Papa sagte, es fehle die Klaviatur der alten Schererorgel. Papa entdeckte auch ein paar Teile der Umrandung des Altars. In großen Kästen waren Brautkronen [in Wirklichkeit: Totenkronen] ausgestellt. Allerdings war alles sehr schmutzig und verstaubt. Viele Scherben lagen herum. Dann gingen wir hinunter, durch die Kirche und auf die Zwischenempore. Dort lagen die Bücher nur so herum. Es waren viele sehr interessante Bücher und Akten. Leider hatte Papi keine Taschenlampe mitgenommen. Papa entdeckte ein kleines Dachstübchen. Es war so niedrig, dass niemand darin stehen könnte. Es war aber leer. Es standen auch zwei wunderschöne Stühle herum.

Danach gingen wir in den Turm. An einem Nagel hing der Schlüssel nach oben. Wir gingen hinauf. Zum Schluss hatten wir noch eine sehr, sehr steile Treppe zu besteigen. Auf dem Dachboden der Kirche sahen wir die Umrisse und eine Reihe Fenster der Basilika. Wir mussten auf Stegen laufen. Unter uns waren die Gewölbe. Papa sagte, dort sei mal ein richtiges Stübchen gewesen. Wir stiegen (Tinchen und ich) einzeln eine kleine Leiter hoch, auf einen Steg, von dem man durch ein Dachfensterchen auf einen Teil der Stadt hinuntersehen konnte. Dann gingen wir auf einem anderen Steg wieder zurück. Wir sahen auch eine Glocke. Dann mussten wir einzeln die steile Treppe wieder hinunter.

Papa zeigte uns das Innere der Orgel. Dann gingen wir wieder in das Kirchenschiff. Dann gingen wir in die Sakristei. Dort wuschen wir uns die Hände. Papa sah sich Bücher an, die in einem Schrank waren, den er nur mit Mühe aufbekam. Er las auch etwas vor und Apidei [Kosename für Opa Kowalewsky] notierte es.

Dann verließen wir die Kirche und gingen auf den Kirchplatz, wo wir Herrn Tiering und den Superintendenten mit seiner Frau trafen. Danach gingen wir zu Oben-Omi mit [Die Großeltern Kintzel nannten wir so, weil sie früher oben im Fachwerk-Pfarrhaus gewohnt hatten und wir unten.]. Sie unterhielt sich mit Opi und Papi. Sie gab uns auch zwei alte Märchenbücher mit. Beinahe hätten wir unsere Jacken noch vergessen. Danach fuhren wir wieder nach Hause.

Omi [Kowalewsky] sagte uns, Uta [meine andere jüngere Schwester] hätte geweint, weil sie nicht dabei sein konnte. Papa tröstete sie und sagte, er würde noch einmal zur Kirche fahren. Apidei sagte, ich solle einen Bericht schreiben. Für jede Seite gäbe er mir eine Tafel Schokolade. Das habe ich natürlich gemacht.

[Es sind 4 handgeschriebene A5-Seiten geworden.]


Anmerkung (Eva-Maria, 2011):

Ein bisschen merkwürdig ist natürlich, dass der enorme spätgotische Flügelaltar, der der Werkstatt Lucas Cranachs d. Ä. zugeschrieben wird und zu den schönsten sakralen Kunstwerken der Mark Brandenburg gehört, in diesem Bericht überhaupt nicht vorkommt. Wir werden ihn zweifellos bei anderen Besuchen in dieser wunderschönen Kirche bewundert haben.


Bernau bei Berlin, Marienkirche in DDR-tijd; Foto: Ulrich Hasse