Familiengeschichten







Erinnerungen meines Urgroßvaters

Otto Kowalewsky
Diese Geschichte sowie die nachfolgenden Erinnerungen von Otto Kowalewsky sind Eigentum seiner Nachkommen und dürfen ohne deren schriftliche und ausdrückliche Genehmigung weder kopiert noch verbreitet werden.

1867 -1872 Erste Kindheit in Sczeczinken

Am 13. September 1867 (einem Freitag) wurde ich in Sczeczinken Krs. Oletzko [Ostpreußen, emk* ] geboren und am 6. Oktober 1867 in der ev. Kirche zu Marggabowa (Oletzko) getauft. Mein Geburtsort ist nach dem Weltkrieg in Eichhorn und die Kreisstadt in Treuburg umbenannt worden.

Eure Wohlgeborenen

werden ergebenst gebeten bei der Taufe

Meines mir am 13ten September geborenen

Sohnes den 6ten Oktober 1867 um

10 Uhr in der Kirche zu Oletzko als

Zeuge gütigst gegenwärtig zu sein

Kowalewsky nebst Frau

Marggrabowa (= Oletzko), Markt mit Kirche

Die Geburtsdaten meiner Eltern sind:

Vater Christian Kowalewsky, geboren am 10. April 1830 in Thuren

Mutter Wilhelmine, geb. Bennert, geboren am 1. Januar 1839 in Kutten.

Am Tage meiner Geburt war also mein Vater 37 und meine Mutter 28 Jahre alt. Wie zwei erhaltene Briefe zeigen, war ihnen während der Zeit ihres Verlöbnisses üble Nachrede nicht erspart geblieben. (Riet doch schon Luther in einer seiner Tischreden zur Abkürzung des Brautstandes wegen der Gefährdung durch böse Zungen).

Mein Vater war preußischer Grenzaufseher. Sein Dienst bestand in der Überwachung der Grenze gegen den Schmuggel. Mein Geburtshaus war aus Holz erbaut und mit Stroh gedeckt. Es gehörte einem Bauern, der es zur Unterbringung der beiden Zollbeamten vermietet hatte. Hinter dem Haus stand ein Zollgebäude, nahebei war ein kleiner mit Schilf bewachsener Teich.

Die Entfernung bis zur russischen Grenze betrug etwas über 1 km. Wir hatten die Wohnung zur Linken von der Straße aus; die rechte Hälfte bewohnte der Kollege meines Vaters.

Meine ersten Lebensjahre verliefen sehr ruhig. Wir hatten wenig Verkehr. Die Kinder aus der zweiten Wohnung waren meine Spielgefährten. Als ich einige Jahre alt war, konnte ich lange Zeit damit zubringen auf einer Waschschüssel, die mir die Mutter dazu hinstellte, Papier schwimmen zu lassen. Die Freude am Wasser ist wohl hier bei mir wach geworden.

An einem Sonntag wurde ich nach Marggrabowa zur Kirche mitgenommen. Das lange Stillsitzen in der nicht sehr hellen Kirche wirkte auf mich sehr beklemmend. Ein besonderes Vergnügen hatte ich an der Betrachtung der Bilder in „Arndts wahres Christenthum“. Diese symbolischen Bilder stehen mir noch in lebhafter Erinnerung, z.B. das Bild mit dem der Sonne entgegenfliegenden Adler (Non soli credit).

Ich erinnere mich auch eines Weihnachtsfestes und meiner gespannten Erwartung auf den so geheimnisvoll vorbereiteten Abend. Ein kleines, etwa handlanges Holzwägelchen, das mir dann beschert wurde, schätzte ich als eine herrliche Kostbarkeit. Meines Wissens war ich in diesen Kindheitsjahren kaum krank.

Das zweite Kind meiner Eltern, Max, starb in Sczeczinken.

In meiner Erinnerung haftet noch eine große Fahrt mit Postfuhrwerk nach Thuren, auf der ich meinen Vater begleiten durfte. Es muß zu Beginn des Krieges 1870/71 gewesen sein, denn ich war zugegen als Gottlieb Bennert, ein Bruder meiner Mutter seinen Hof verließ, um ins Feld zu rücken. Er fiel vor Metz.

Einmal besuchte ich mit meinem Vater den russischen Grenzposten bei Nowawies. Diese Kordons (Grenzwachen) befanden sich in gewissen Abständen an der Landesgrenze und waren mit einer Anzahl von Soldaten belegt. Zwischen dem russischen Militär und den preußischen Zollbeamten bestand ein freundnachbarliches Verhältnis.

*emk = Eva-Maria Kintzel



KÖNIGSBERG, 1873 – 1875

Zum 1. April 1873, als ich 5 ½ Jahre alt war, wurde mein Vater als Steueraufseher nach Königsberg i. Pr. versetzt. Wir wohnten zunächst Sackheim, ....Str., wenn ich nicht irre Nr. 86. Man beschloß, mich in eine Kleinkinderschule zu bringen. Eine „Frau Kantor“ führte diese Schule in einer Seitenstraße des Sackheim unweit unserer Wohnung. Von der Straße aus führte ein schmaler, mit Ziegeln gepflasterter Gang geradeaus zur Küche. Durch eine Tür zur rechten Hand gelangte man in das Schulzimmer. Vor den kleinen Jungen und Mädchen saß die Frau Kantor auf einem Stuhl. Ihr Kleid war um sie her in einem richtigen Kreisbogen auf dem Fußboden ausgebreitet. Das erschien mir verwunderlich. An einem Nachmittag wurde ich also hingeführt. Dieser Anfang wurde bestimmend für meine Einstellung gegenüber dem Schulbesuch. Ich wurde nämlich sogleich in ein hinter dem Schulzimmer gelegnes kleines, einfenstriges Zimmer geführt, in dem ein Bett und am Fenster ein Stuhl stand. Auf diesen Stuhl wurde ich nun gesetzt und musste so lange dort allein verbleiben, bis nebenan die Schule aus war, - es können auch 2 Stunden gewesen sein. In großer Bangigkeit und Langeweile hatte ich die Zeit zugebracht. Das war also die Schule! Freiwillig war ich nicht wieder hinzubringen. Ein kleines Mädchen aus unserem Hause, das auch diese Schule besuchte, musste mich immer fest bei der Hand halten. Auch der Stolz, eine kleine mit blauen und weißen Glasperlen bestickte Umhängetasche tragen zu dürfen, konnte meine Abneigung gegen die Schule nicht vermindern. Sonst ist mir aber in dem Betrieb der Frau Kantor gerade nichts übles wiederfahren. Dann zogen wir nach dem Friedländer Tor am Wiesenmarkt, und ich kam in eine andere Kinderschule zu einem Fräulein. Hier waren nicht nur ganz kleine sondern auch schon größere Kinder. Meine Scheu vor der Schule bestand weiter und es gab allerhand Beängstigungen seitens der anderen Kinder, die z. B. von Nachbleiben sprachen, worunter ich Nachtbleiben verstand. Ich begann jetzt also die Schule zu schwänzen. Beim ersten mal, als ich nach einer halben Stunde heimkehrte, erklärte ich, die Brücke sei aufgezogen gewesen und ich hätte deshalb umkehren müssen. Dies fand bei meiner Mutter vielleicht noch Glauben in der Annahme kindlicher Unbesonnenheit. Dann aber hielt ich es für einfacher, morgens zu gegebener Zeit von Hause wegzugehen, aber nicht zur Schule, sondern in eine abgelegene, mit Gebüsch bestandene Gegend am Pregel in der Nähe des Friedländer Tores. Hier hielt ich mich so lange auf, bis andre Kinder aus der Schule heimkehrten. Ob ich diesen Schwindel mehrmals ausgeführt habe und ob ich dafür bestraft worden bin, weiß ich nicht mehr. Aber fürchterliche Ängste habe ich damals ausgestanden.


Nun kam die Zeit, dass ich in eine richtige Vorschule eintreten konnte. Es war die Löbenichtsche Mittelschule. Wir waren nach der Königsstraße (96 ?) umgezogen. In dieser Schule verschwand meine Abneigung. Unser Lehrer wusste wohl auch besser mit den Kindern umzugehn und ich fand Interesse am Lernen. Schulfreundschaft fand ich auch. Ich war vielleicht 7 Jahre alt, als ich den ersten Rauchversuch unternahm. Ein Schulkamerad, dessen Mutter einen Handel mit allerlei Lebensmitteln, Süßholz, Lakritzen u. dgl. Betrieb, hatte einige Zigaretten gestiebitzt, die wir an einem Nachmittag vor der Turnstunde rauchten. Große Übelkeit war die Folge und ich bedaure noch heute die Sorge meiner Mutter ob der unerklärlichen Erkrankung. Auf dem Hofe unseres Wohnhauses war eine Wagenlackiererei. Hier habe ich oft zugesehen, wie die Farben auf dem Stein gerieben wurden, wie die Wagen lackiert, geschliffen und poliert wurden und wie die feinen Linienverzierungen zustande kamen.

Leider ließ meine Gesundheit zu jener Zeit zu wünschen übrig. Ich war skrupulös und erhielt Jodpinselungen an den Mandeln; auch die Augen waren nicht in Ordnung.

In Königsberg begruben wir ein Brüderchen, Albert.


WEWELINGHOVEN, 1875 – 1878


Infolge Aufhebung der Mahl- und Schlachtsteuer mußte eine große Zahl der Steuerbeamten ihren Dienstort wechseln. Mein Vater wurde zum 1. September 1875 nach Wewelinghoven Kr. Neuß, Reg. Bez. Düsseldorf versetzt. Unsere Möbel ließen wir größtenteils in Königsberg zurück. Neben dem Bettzeug behielten wir nur Mutters Aussteuerkommode, die jetzt, weiß gestrichen, in der Küche meiner Schwester in Gumbinnen steht. Es war eine lange Reise. Ich erinnere mich noch der Durchfahrt durch Berlin über die Schloßbrücke mit ihrem Figurenschmuck. Von der weiteren Reise ist mir noch der schiefe Turm in Soest im Gedächtnis geblieben. Auf einer der ersten Stationen im Rheinland glaubte man sich eine Flasche Wein leisten zu können, aber groß war die Enttäuschung, da der Wein keineswegs so wohlfeil war, wie man gedacht hatte.


In Wewelinghoven bezogen wir eine hübsche Wohnung in einem dem Bäcker Forst gehörigen kleinen Hause in der Unterstraße mit 2 Zimmern und Küche. Die nachfolgenden Aufnahmen habe ich gemacht, als ich am 7. September 1938 mit Mama Wewelinghoven besuchte. Das obere Stockwerk entstammt späterer Zeit. Das Zimmer links neben der Haustür, jetzt Bäckerladen, unser Wohnzimmer, hatte früher auch in der Giebelwand ein Fenster, das nun zugemauert ist. Die Stelle ist da, wo die Kinder stehen, noch zu erkennen.

Etwas ganz neues war das große rheinische Familienbett, dessen Breite gleich der Länge war.

Auf dem Grundstück wurde die Bäckerei betrieben. Mit Staunen sah ich zu, wie in einen großen, auf dem Boden stehenden Holztrog Mehl und Wasser geschüttet wurde und wie dann der Bäcker sich der Schuhe und Strümpfe entledigte, um in den Trog zu steigen und den Teig mit den Füßen zu kneten. Die erste Zeit in W. war für uns recht schwierig. Wir verstanden die Sprache der Leute nicht und umgekehrt war es ebenso. Wir galten als „kott“, d. h. als unvernünftig, außerdem waren wir auch „Ketzer“ unter der überwiegend katholischen Bevölkerung. Allmählich gewöhnte man sich aneinander. Der katholische Fanatismus blieb aber sehr fühlbar, wurde doch meinem Vater, als er eine Prozession verüberziehen sah, die Dienstmütze vom Kopf geschlagen! Bald hatten wir uns wohnlich eingerichtet. Neue Möbel waren in Grevenbroich gekauft. Das Mahagonisopha nebst Tisch und ovalem Spiegel benutzt meine Schwester noch.


Der Dienst meines Vaters bestand in der Kontrolle der zahlreichen Brauereinen der Umgegend und der in der nahegelegnen Gilbacher Zuckerfabrik verarbeiteten Zuckerrübenmengen.


Ich besuchte nun die Elementarschule. Der Lehrer
Hartmann war sehr tüchtig und auch ein netter Mann. Er hatte eine freundliche Tochter, Mathilde, die auch in seine Schule ging. Einige Zeit habe ich sehr unter einer Augenerkrankung gelitten, die mich auch im Schulbesuch behinderte. Wir hatten eine kleine Katze, die sehr an mir hing und morgens, wenn ich zur Schule ging, festgehalten werden musste, da sie durchaus mitlaufen wollte. Ich habe mich mit dem Tierchen viel beschäftigt; meine Liebe zu Katzen ist damals wachgeworden. Mit anderen Jungen war ich oft zusammen. Sehr schön war es an der nahe vorbeifließenden Erft.


Wir bezogen dann eine andere, etwas größere Wohnung am anderen Ende des Orts in der Krummen Straße. Das dem Tischlermeister Gehlen gehörige Anwesen war ziemlich umfangreich mit Landwirtschaft und großem Tischlereibetrieb. Es war ein Eckgrundstück. Der von uns bewohnte Teil war ziemlich neu oder neu hergerichtet. Daran schloß sich ein großer Obst- und Gemüsegarten. Die nachfolgenden Aufnahmen sind vom 7. September 1938.

In Wewelinghoven verloren wir ein Schwesterchen, Marie, etwa ein Jahr alt. Dafür wurde am 16. Januar 1877 meine Schwester Auguste geboren. Dieses Tages kann ich mich sehr deutlich erinnern. Es war ein schöner, sonniger Wintertag und ich tummelte mich vormittags draußen. Ich hatte gerade einen Apfelbaum vor dem Hause erklettert, als mir zugerufen wurde, es sei ein kleines Schwesterchen eingetroffen und ich möchte gleich zu Sinners laufen, um ihnen das frohe Ereignis zu melden. Mit dieser Familie waren wir befreundet. Herr Sinner war Steuereinnehmer. Die Tochter heiratete später meinen Onkel mütterlicherseits Heinrich Bennert.


Als die schöne Jahreszeit kam, habe ich die kleine Auguste oft in dem großen Garten in ihrem Kinderwagen umhergefahren. Dabei ereignete es sich auch, daß der Wagen, den ich auf einem abschüssigen Wege losließ, sich seines Inhalts entledigte. Es war aber gut abgegangen. In dem Garten gab es auch schwarze Johannisbeeren, die ganz anders schmeckten als die weißen und roten. Die schwarze Sorte habe ich seither nicht wieder angetroffen.


Aus umherliegenden Pfählen und Brettern errichtete ich gern allerhand Bauten. Als ich einst ein solches ziemlich hohes Bauwerk erkletterte, brach es unter mir zusammen und der Sturz verursachte mir doch einige Beklemmungen. Sehr unterhaltsam war ein großer Wallnussbaum in unserem Garten. Wenn seine Früchte reiften und herabfielen, war ich mit einigen Jungen hinterher. Wir hatten dann nach dem Ablösen der dicken Außenhülle sehr dauerhaft gefärbte braune Finger.


Während der Zuckerrübenkampagne hatte mein Vater viel Dienst in der Zuckerfabrik, auch nachts, weil mit Nachtschichten gearbeitet wurde. Wenn er am Nachmittag dort war, musste ich ihm den Kaffee bringen. Das war mir sehr willkommen, denn ich hatte dabei Gelegenheit, die Zuckerfabrikation genau kennen zu lernen. Die von den Feldern angefahrenen Zuckerrüben wurden gewaschen und auf Förderbändern in die Fabrik befördert, wo sie in eine große, sich drehende Trommel fielen, an der eine Anzahl Frauen stand, die die Rüben mit Messern verputzten, d. h. von den Blattansätzen und sonstigen Überflüssigkeiten befreiten. Dann wurden die Rüben in kleine, durch einen Mann geschobene Kastenwagen vor den Platz des Steuerbeamten gewogen und zur Schnitzelmaschine gebracht. Unter Hitzeeinwirkung wurde den Schnitzeln der Zuckersaft entzogen. Der Saft wurde weiterhin in sehr großen Kesseln in Rohzucker verwandelt. Zum Schluß folgte eine Behandlung mit Knochenkohle und das Ereignis war brauner Kandiszucker.


Diese Wewlinghover Zeit war nicht übel, nur mußte ich zu meinem Schmerz wahrnehmen, wie schlecht mein Vater meine gute, geduldige Mutter behandelte. Sogar zu Tätlichkeiten war er geneigt.


In der Schule ging es mir ganz gut. Der Sedantag[1] wurde groß gefeiert. Der Glanzpunkt des Tages war die Bewirtung der Schulkinder mit Reisbrei in einer Gastwirtschaft. Wir sollten dazu Löffel mitbringen, doch hatte ich dies vergessen. Was nun mit dem gefüllten Teller? Da zeigte mir ein Herr, wie man auch mit einer ausgehöhlten Semmel zum Ziele gelangen konnte. Dies Erlebnis wurde mir zur Lehre; erfuhr ich doch, wie es in schwieriger Lage wichtig ist, aus der Not eine Tugend zu machen. Gern denke ich noch an den Besuch meines vordem genannten Onkels Heinrich Bennert. Er war Sergeant oder gar Wachtmeister bei den Ulanen in Straßburg. In seiner glänzenden Uniform – er war auch ein sehr hübscher und ansehnlicher Mann – kam er mir wie ein Kriegsgott vor. Sein Ansehn bei mir gewann noch besonders dadurch, dass er mir einen kleinen Schornsteinfeger aus Schokolade mitbrachte. Das war für mich etwas unerhört Seltenes. Zu erwähnen bleibt noch ein Schulkamerad namens Ulich. Sein Vater war auch Steueraufseher. Unsre Wege gingen dann auseinander. Nach 50 Jahren sahen wir uns wieder. Er ist Pfarrer geworden und wohnte in Brodowin Krs. Angermünde. Durch meinen Sohn Walter hatte er von mir erfahren und so besuchte er uns in Dahlem. Mama und ich sind danach auch von Chorin aus bei ihm gewesen.


In Wewelinghoven erlebte ich auch ein Erdbeben. Als wir einst besuchsweise bei Sinners waren, gab es plötzlich eine starke Erschütterung, sodaß das Geschirr im Schrank klirrte. Die Leute liefen erschreckt auf die Straße, aber dann erfolgte nichts mehr.


DÜSSELDORF, 1878 – 1881


Ich war nun über 10 Jahre alt und mein Vater wollte mir eine gute Schulbildung verschaffen. Seiner Bitte um Versetzung nach einer Stadt mit Gymnasium wurde entsprochen und so erfolgte zum 1. April 1878 die Versetzung nach Düsseldorf.


Der Lehrer Hartmann hatte sich, wie ich dankbar erwähnen muß, vor meiner Entlassung besonders bemüht, mich für die Sexta reif zu machen. So wurde ich auch ohne Schwierigkeiten in die Sexta des Düsseldorfer Gymnasiums aufgenommen.


Wir wohnten zunächst am Alexanderplatz. Das Haus lag der Grünstraße gegenüber, die auf den Alexanderplatz mündet.

[Die beiden folgenden Photos entstammen unserm Besuch in Düsseldorf am 6. September 1938]

Im Erdgeschoß war eine Gastwirtschaft. Unsere Wohnung lag im ersten Stock mit 2 Zimmern nach dem Platz hinaus. Die Küche war an der Hofseite. Etwas unbequem war es, dass die Küche durch den Flur von den beiden Zimmern getrennt war. Auf dem Hof war ein Handwerksbetrieb.

Zunächst eine Lithographische Werkstatt. Hier sah ich, wie Besuchskarten in Spiegelschrift auf den Stein gebracht und von diesem abgedruckt wurden. Es entstanden auch Etiketts für Weinflaschen, vielfach mit Goldverzierungen. Die zu vergoldenden Teile wurden mit Eiweiß gedruckt und dann wurde das Goldpulver mit einem Wattebausch darüber gestäubt.

Mindestens ebenso interessant war eine Kupferschmiede. Hier wurden nur ganz große Gegenstände hergestellt, wie Waschkessel, Braupfannen u. dgl. Von einigen Metern Durchmesser. Alles wurde kalt gehämmert und das machte einen ohrenbetäubenden Lärm. Heute würde die Nachbarschaft darüber in helle Empörung geraten. Die starken Kupferrohre wurden gebogen, nachdem man sie mit einer harzartigen Masse gefüllt hatte. Dadurch wurde das Flachdrücken verhütet. Zum Schluß wurde die Füllmasse herausgeschmolzen.
Im hinteren Teil des Grundstücks befand sich eine große Bautischlerei und auch diese zog mich eigentlich am meisten an... Maschinen gab es damals nicht, alles wurde von Hand gesägt, gehobelt, gestemmt und gebohrt. Diese Arbeiten habe ich genau verfolgt und mir dadurch viele Grundkenntnisse der Holzbearbeitung angeeignet. Jetzt erwachte in mir auch der Trieb zum Basteln. Zunächst sollte ein Schiff entstehen. Den Schiffskörper, der mit Säge und Hobel auszuarbeiten war, versprach mir ein Geselle herzustellen. Meine Geduld wurde jedoch sehr angestrengt. Wie oft, wenn Feierabend gemacht wurde, hoffte ich, daß der Geselle sein Versprechen einlösen würde. Wiederholte schüchterne Erinnerungen führten schließlich zum Erfolg. Unwirsch und um den Quälgeist endlich loszuwerden, nahm der Geselle ein Stück Holz und gab ihm die gewünschte Form. Glücklich zog ich ab und nun wurde das Werk vollendet. Als Werkzeug diente ein Messer und Mutters Schere, mit der die Löcher gebohrt wurden. Trotz Mutters ständigem Einspruch war und blieb die Schere für mich ein unentbehrliches Werkzeug. Das Anstreichen machte mir keine Schwierigkeiten, hatte ich es doch in der Königsberger Lackierwerkstätte gut kennengelernt. Im übrigen habe ich in vorerwähnten Betrieben den größten Teil meiner Freizeit zugebracht. Bei angeborener technischer Begabung ist mir diese Berührung mit der Praxis von bleibendem Nutzen geworden.


Nun die Schule. Ordinarius der Sexta war Herr Dr. Cremens, ein noch jüngerer Mann und guter Lehrer. Wir hatten Latein bei ihm und ich war mit wirklichem Vergnügen dabei. Wie wichtig ist doch die Art eines jeden Anfangs. Latein ist fast mein Lieblingsfach geworden. Weiterhin hatten wir aber auch Lehrer, die nicht am Platz waren. Der Unterricht im Französischen war ganz wertlos. Der Lehrer hatte keine Autorität und in seiner Stunde wurde nur Lärm verübt. Auf der Quarta kam Griechisch dazu und nach anfänglichen Schwierigkeiten kam ich auch damit gut zurecht. In der Mathematik war der Unterricht ziemlich mangelhaft, dabei hatte ich für die Planimetrie, mit der wir anfingen, starkes Interesse.


Mit Schularbeiten wurden wir nicht gequält, es herrschte ein ziemlich lockerer Betrieb. Dazu kamen die vielen katholischen Feiertage. In Deutsch und den Fremdsprachen wurden nur Hausarbeiten geschrieben, Extemporalien (Klassenarbeiten) nur gegen Ende des Vierteljahres. Die zu Hause mit allen erlaubten und unerlaubten Hilfsmitteln gefertigten Exerzitien fielen natürlich befriedigend aus, in den Extemporalien waren dagegen die Fehler nicht zu zählen. In den Karnevalstagen ruhte der Schulunterricht. Man war den ganzen Tag auf der Straße, wo die ausgelassenste Stimmung herrschte. Der Höhepunkt dieser Tage war der vom Künstlerverein „Malkasten“ veranstaltete Umzug, der viel Heiterkeit auslöste.


In der Grünstraße, die ich vorhin erwähnte, wohnte meine Schulfreund Edmund Furnier. Zwei Tanten führten den Haushalt. Es waren Engländer und man sprach untereinander nur Englisch. Etwas habe ich davon aufgeschnappt. Hinter dem Hause war ein sehr hübscher Garten mit vielen Blumen, namentlich Kresse in großer Fülle. Die blühende Kresse ruft mir noch heute die Erinnerung an jenen Garten wach.


Wir bezogen weiterhin eine andere Wohnung, die unmittelbar am Rhein lag. (Bei unserm Besuch im September 1938 habe ich das Haus nicht wieder gefunden.) Die Wohnung bot viel Raum, zwei große, ein kleines Zimmer und noch eine Kammer sowie Küche, alles in sehr guter Verfassung. Da die Stadt an einer Krümmung des Stromes liegt, sah man vom Fenster dieser Wohnung kilometerweit stromauf und stromab. Da zogen außer den anderen Schiffen die großen Seitenradschlepper Haniel & Lueg, Matthias Stinnes mit mehreren Lastkähnen im Schlepp vorüber. Auch Flöße kamen den Rhein herunter, Kettenschlepper gab es auch. Zu Zeiten passierten See-Segelschiffe (Schoner), die, soweit ich mich erinnere, Selterwasser vom Oberrhein abholten. Damals bestand noch eine Schiffbrücke, die für den Durchgang der Fahrzeuge und Flöße immer ausgefahren werden musste. Diesen interessanten Vorgang konnte man von unserer Wohnung aus gut beobachten.


Mein Vater hatte viel Dienst auf Schiffen, deren Ladung unter zollamtlicher Kontrolle entlöscht wurde. Da musste ich ihm oft den Kaffee überbringen und sah dabei, wie es im Hafen und auf den Schiffen zuging. Am interessantesten waren die Holländer.


Ich baute damals hübsche kleine Schiffchen nach einem besonderen Verfahren, sie waren aus dem starken Papier der Heftumschläge durch Nähen zuzammengefügt und mit Ölfarbe gestrichen. So waren sie dauerhaft und wasserfest.


Ein sehr eindrucksvolles Bild bot der Rhein bei Hochwasser und Eisgang. Mit dumpfem Getöse zogen die großen Eisschollen vorüber und nicht selten trugen sie Holz und andre Sachen, die vom Hochwasser mitgerissen waren.


Mit meinen Schulfreunden wurden auch Ausflüge in die Umgebung unternommen, z. B. nach der Eisenbahnbrücke bei Hamm, einige Kilometer oberhalb der Stadt, und nach Grafenberg. In letzterer Gegend zog uns ein gewaltiger Meteorstein an, den wir immer aufs neue bestaunten.


Am Konfirmandenunterricht bei Pfarrer Frey hatte ich teilgenommen. Die Konfirmandenstunden verliefen sehr feierlich. Pfarrer Frey begleitete die Choräle auf dem Harmonium.


So habe ich in Düsseldorf einige ganz schöne Jahre verbracht; ich hätte es nicht bedauert, wenn ich dort verblieben wäre.

Einen Trauerfall hatten wir hier leider auch. In der Wohnung am Alexanderplatz starb meine kleine Schwester Johannchen, die wir sehr betrauerten.


Um unsere Häuslichkeit war es nicht gut bestellt; das Wesen meines Vaters ließ keine Freude aufkommen. Ich hatte unter seiner Heftigkeit auch viel zu leiden. Schrecklich war es, wenn ich nach seinem Diktat Briefe an die Verwandten in Ostpreußen schreiben musste. Dabei ging es nie ohne Schläge ab, vor denen mich auch meine Mutter nicht schützen konnte.


KÖNIGSBERG, 1881 – 1884


Mein Vater konnte sich in der Rheinprovinz nicht einleben und erstrebte die Rückversetzung nach Ostpreußen. So kamen wir also zum 1. August 1881 wieder nach Königsberg zurück. Dort wohnten wir Oberlaak Nr. 27 im 2. Stock eines großen Miethauses. Die Wohnung bestand aus der Küche, einem großen zweifenstrigen Zimmer und einem sogenannten Kabinett. Das Letztere, eine Königsberger Eigenart, war ein fensterloser, durch eine Tür vom großen Zimmer aus zugänglicher Raum, der zum Schlafen diente. Am 7. Juni 1941 fertigte ich ein Photo des dortigen Hauses...



[1] Anmerkung: Gedenktag zur Erinnerung an den Sieg Preußens und der verbündeten süddeutschen Staaten über Napoleon III am 2. September 1870. Dem folgte am 18.1.1871 im Schloß zu Versailles die Krönung Wilhelm I. zum deutschen Kaiser


1906-1912 Berlin-Friedenau und der Rüdesheimer Platz

Zum 1. Mai 1906 wurde ich also nach Berlin versetzt. [...] Am angegebenen Tage trat ich nun den Dienst im technischen Büro der Wasserbauabteilung des Ministeriums d.ö.A. [Ministerium der öffentlichen Arbeiten, emk* ] an. Meine Familie war einstweilen in Königsberg verblieben. Ich wohnte zunächst als möblierter Herr bei dem Kollegen Brenisch in der Ebersstraße in Schöneberg. In Friedenau, Stubenrauchstraße 55, fand ich eine passende Wohnung. Das Haus war gerade fertig geworden. Der Umzug geschah zum 1. Juni 1906. Der Sextaner Paul wurde beim Friedenauer Gymnasium eingeschult; Walter [mein Großvater, emk* ] war erst 3 Jahre und 7 Monate und Hans 2 Jahre und 3 Monate alt. Gleich nach dem Umzug erkrankten Walter und Hans an Halsentzündung, die aber bald durch Dr. Schultz geheilt wurde, der uns dann auch lange Jahre hindurch in Krankheitsfällen betreute.

Berlin-Friedenau, Stubenrauchstraße 55,
im Vordergrund v.l.n.r.: Paul, Walter (mein Opa) und Hans Kowalewsky (1906)

Unsere Wohnung im ersten Stock des Hauses hatte drei zweifenstrige und ein einfenstriges Zimmer mit Küche und Mädchenkammer und kostete jährlich 950 M. Das kleine Zimmer bewohnte Omama, Pauls Bett stand auch darin. Über uns wohnte die Familie des Geh. Reg. Sekretärs im Justizministerium Brathuhn, mit der wir in guter Freundschaft lebten. In Friedenau fanden wir auch die Familie Kleibs vor. Julius Kleibs, bei dem ich s. Zt. in Gumbinnen Musikunterricht hatte, war infolge Erblindung in den Ruhestand versetzt und nach Friedenau verzogen, weil hier seine Tochter Frieda an den Sekretär im Reichsversicherungsamt Edwin Pukaß verheiratet war. Pukaß kam später in das Reichsamt des Inneren und dann in die Reichskanzlei. Mit den Familien Kleibs und Pukaß standen wir in sehr freundschaftlichem Verkehr.

Ganz nahe unserem Haus gelangte man auf ein freies Gelände, das vor Jahren zur Bebauung vorbereitet, dann aber liegen geblieben war. Die Straßenzüge waren mit Bordsteinen versehen und mit Bäumen bepflanzt, die schön Schatten spendeten. Das Ganze bedeckte üppiges Grün, hohes Gras mit Feldblumen u. dgl.

Nach dem Nachmittagskaffee ging es mit der ganzen Familie auf dieses Feld hinaus. Walter und Hans wurden von Martha Blank, die wir aus Königsberg mitgebracht hatten, in einem Sportwagen gefahren. Draußen lagerte man sich und die Jungen beschäftigten sich am liebsten mit dem Ausheben von Gruben (Kuten), in denen man dann sitzen konnte. Die Familie Pukaß war oft dabei, ebenso die alten Kleibs. Im Spätsommer pflegten wir eifrig den Drachensport; dazu hatte ich auch einen großen Kastendrachen angefertigt.

Als im Jahr 1907 das Gelände in Schrebergärten eingeteilt wurde, sicherten wir uns ein schön und bequem gelegenes Stück. Das Land wurde zunächst gepflügt und geeggt, um das viele Unkraut einigermaßen zu beseitigen. Dann folgte das Umgraben und Anlegen der Wege. Der größere Teil wurde Rasen und es entstanden einige Gemüse- und Blumenbeete. Dann erbaute ich ein schönes, wohnliches Holzhäuschen mit großer Laube. An einem Mast flatterte die schwarz-weiß-rote Fahne. Über dem Sandspielplatz ragte die Windmühle, die jetzt im Garten von Pauls Wohnung angebracht ist. Als im Frühjahre 1908 das Säen und Pflanzen begann, betätigte sich Omama daran mit großem Eifer. Der Garten hat uns viel Erholung und Vergnügen bereitet. Die Sonntag-Nachmittage gestalteten sich besonders fröhlich. Bald nach dem Mittagessen ging ich hinaus, um den Kaffee zu bereiten, und wenn die Familie erschien, war alles vorbereitet.

An einem solchen Sonntag-Nachmittag hatten wir ein besonderes Erlebnis. Beim Gordon-Bennet-Rennen von Freiballons platzte der Ballon „Conqueror“ gerade über uns und wir sahen zu, wie er sich langsam senkte und schließlich auf ein Haus in Friedenau niederging. Vom Garten aus konnten wir auch das zum ersten Mal nach Berlin kommende Zeppelin-Luftschiff beobachten.

Unser hübscher und kluger Kater Peter wohnte im Sommer draußen. Wenn wir erschienen, kam er uns mit großer Freude entgegen. Der Garten erfreute uns bis zum Jahre 1911. Das Gelände wurde nun bebaut und an der Stelle entstand der Rüdesheimer Platz. Die Räumung geschah ziemlich plötzlich, ich konnte aber noch das Häuschen für 50 M verkaufen.

*emk = Eva-Maria Kintzel

Diese und weitere Erinnerungen meines Urgroßvaters Otto und meines Großvaters Walter Kowalewsky sind auch enthalten in:

Dierk Loyal, Hugenottenfamilie Loyal und Nachkommen aus dem Pays messin in Frankreich, Bd. I+II, Selbstverlag 1998,

ISBN 3-00-002711-4


Kindheitserinnerungen von Ivos Oma

Elisabeth Vogels


1893-1897 Blerick bei Venlo in Limburg (NL)


Als ich sieben oder acht Jahre alt war, wurde bei uns die große, schöne Antoniuskirche gebaut. Bei der Grundsteinlegung war ich das „Bräutchen“ und durfte gemeinsam mit einem anderen Mädchen, Cato Bouts, den großen Sandstein tragen, der als Grundstein fungierte.
Mein Vater war ein waschechter Limburger, 1850 in Buggenum geboren. Meine Mutter kam aus Leiden, war also eine Holländerin. Bei uns wurde immer Limburgisch gesprochen, außer im Wohnzimmer, weil Mama das nicht verstand und nicht sprechen konnte.

Sehr bald bekamen wir ein schönes großes Haus an der Hauptstraße, jetzt der Antoniuslaan. Ein schöner Vorgarten und hinter dem Haus noch ein großer Garten mit den feinsten Obstsorten. In den Vorgiebel war ein Sandstein eingemauert mit der Aufschrift „Erster Stein von Betsy Vogels“ [das war sie selbst, emk] in vergoldeten Buchstaben. Neben dem Haus waren an beiden Seiten Einfahrten, eine für die neue Brauerei und eine fürs Wohnhaus. Unter dem gesamten Haus und der Brauerei lagen große, kühle Keller für die Bierfässer. Wenn gebraut wurde und Papa dachte dran, brachte er immer warmes Bier mit, ganz frisch. Das war herrlich! Auf nüchternen Magen!!

Das Haus war für die damalige Zeit besonders schön getäfelt, alle Fensterrahmen, Türen, das ganze Treppenhaus aus prachtvollem Eichenholz. Auch die Schiebetüren zwischen dem Wohnzimmer und dem Saal – wie wir ihn nannten – bestanden aus schön verziertem Holz. Vor den Fenstern Faltjalousien mit Sitzbänken darunter.

Mama ging einmal mit mir in den Kindergarten. Ich landete neben einem schmutzigen Läusekind und leckte an seiner Zuckerstange! Als Mama das sah, nahm sie mich sofort wieder mit, und seitdem spielten wir im Garten, bis ich über sieben war und in die Dorfschule kam. Die Klasse bestand zur Hälfte aus Jungs und zur Hälfte aus Mädchen. Einmal wurde ich von einem Kerl mit dem Fahrrad angefahren, der das Rad gestohlen hatte. Noch heute habe ich eine Narbe über dem Auge! Auch weiß ich noch, dass mir Dr. Dubois in unserem Kinderzimmer die Mandeln herausnahm und mir einen „Bock mit goldenen Hörnern“ versprach, wenn ich nicht schrie. Ansonsten bin ich nie krank gewesen.

Wir waren mit meiner Schwester Anny und meinen Brüdern Emile und Jules vier Geschwister. Als wir ins neue Haus einzogen, zog ein Internat für Schifferjungen in unser altes Haus ein. Diese gingen bei uns in die Dorfschule. Meine Schwester und ich hatten viel Spaß mit den Jungs. Sie passten auf, dass die Nonnen nichts sahen, holten uns ab und dann ging es seilhüpfend zur Schule. Oder mit Murmelspiel und Kreiseln. Weil es verboten war, hatten wir den größten „Jux“. Das ist Limburgisch und bedeutet Spaß.

Mein Vater besaß drei Bauernhöfe: Kokkerden, Boekend und einen in Hout-Blerick. Und auch große Wälder.

Das größte Vergnügen hatten wir, wenn Papa die Bestellungen abholte. Dann durften wir mit ein paar Freundinnen mit. Herrliche Spaziergänge. Wir bekamen ein „schöpke bier mit sokker“. Das war ein Gläschen Bier mit viel Zucker!! Auf dem Bauernhof bekamen wir Speckkuchen, Milchreis oder Rosinenbrot!

Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, hatten wir eine Kindheit, wie sie nur wenige Kinder haben. Alles im Überfluss: Milch, Eier, das feinste selbstgebackene Brot. Letzteres knetete die Küchenmagd. Da kamen ein ordentliches Stück Butter oder Schmalz, Eier und Milch hinein. Zweimal die Woche wurde der aufgegangene Hefeteig zum Bäcker gebracht, und für zwei oder drei Cent wurde er dort im Ofen gebacken! Auch herrliches Rosinenbrot und „Klontjesmik“ [ein Zuckerbrot, eigentlich aus Brabant, emk] – echt limburgisch. Und dann die Obstkuchen nicht zu vergessen. Alle möglichen Sorten! Die Bauern vom Bauernhof brachten jeden Samstag den nötigen Vorrat, unter anderem einen großen Klumpen Butter, Eier, Milch, Buttermilch und Mehl. Es gab dort auch viele Obstbäume. Die Hälfte war für den Bauern und die andere Hälfte für uns.

Wir hatten damals auch ein schönes Pferd und einen kleinen offenen Pferdewagen. Das war für uns der Vorgänger vom Auto. Wir unternahmen öfter Ausflüge, vor allem wenn wir Gäste hatten. Für die Städter war das hier ein Schlaraffenland. Wir fuhren dann nach Bever Reuzel, Grubbenvorst usw.

Im Winter bekamen wir zweimal ein halbes Schwein. Die Küchenmagd machte dann Panhas, Leber- und Blutwurst, Sülze und harte Wurst. Die Schinken und der Speck wurden in der kleinen Speisekammer aufgehängt. Die war speziell dafür eingerichtet worden: keine Sonne, Gase vor der Tür und vor dem kleinen Fenster. Wenn die Bauern schlachteten, bekamen wir immer von allem, was sie dann wieder herstellten, eine Probe!

Meine Mutter hatte zwei Dienstboten. Die Küchenmagd bekam 80 oder 90 Gulden im Jahr. Die Miete lief von Oktober bis Oktober nächsten Jahres. Zu Neujahr bekamen sie den „Gottespfennig“ [Handgeld, eine Art Anzahlung, emk], fünf, sechs Gulden. Nahmen sie den an, dann blieben sie. Verweigerten sie ihn, dann mussten wir eine Neue suchen, überall fragen, wo eine wegging. Annoncen kannte man nicht. Das Hausmädchen war sehr jung. Es lernte alles von der Küchenmagd und kam an ihre Stelle, wenn sie heiratete! Zum großen Hausputz, zur Kirmes und zum Nikolaus bekamen sie meistens ein Baumwollkleid und eine große Nikolauspuppe (Spekulatius). Die Schürzen waren vom Haus. Je mehr Spitzen desto vornehmer der Dienst.

Mama tat nichts im Haushalt. Ob es nur ein Scherz war oder nicht, aber ich hörte einmal, dass Mama zur Hochzeit die Bedingung gestellt hatte, dass sie nie in der Küche zu arbeiten brauchte!! Soweit ich weiß, hatte sie, bis sie starb (mit 59 Jahren), noch nie Tee gekocht.

Im Winter wurde das ganze Gemüse, wie grüne Bohnen, Schnittbohnen und Sauerkraut, in großen Steintöpfen in Salz eingelegt. Da kam dann ein Brett mit einem großem Feldstein obendrauf und ein Tuch drüber. Jede Woche musste das Ganze gereinigt werden. Das gesamte Gemüse stammte aus unserem Garten: Spargel, Kohl, Blumenkohl, alles halt, was irgendwie angebaut werden konnte. Als ich heiratete, hatte ich noch nie Gemüse, Kartoffeln oder Obst gekauft!

Jede Woche, manchmal alle vierzehn Tage, kam die Näherin. Alles wurde im Haus genäht und geflickt. Sie stopfte sogar die Socken.

Unser neuer Pfarrer wollte aus der Antoniuskirche einen Wallfahrtsort machen. Sie war ja eine Prachtkirche. Leider ist sie im Krieg zerstört worden. Jetzt [1966, emk] wurde unter Pfarrer Reijnen eine neue gebaut. Ganz modern und doch wunderschön. Damals gab es auch Pilgerfahrten, aber es kamen vor allem viele junge Mädchen, um an jeweils sieben Dienstagen Gott um einen guten Mann zu bitten!

Als wir etwas älter waren, gingen wir nach Venlo zur Schule, zu den Schwestern der Liebe in der Lomstraat. Täglich viermal hin und zurück von Blerick aus über die Brücke. Diese war sehr schmal, und die Eisenbahnbrücke war daran befestigt. In Venlo war die Kavalleriekaserne. Wenn nun die Pferde ausgeritten wurden und zufällig ein Zug vorbeifuhr, hatten die Lokomotivführer einen Heidenspaß, wenn sie die Lokomotive ganz laut pfeifen ließen. Die Pferde sprangen hoch und bäumten sich auf und wir rannten. Was hatten wir für eine Angst!! Je älter wir waren, desto mehr Spaß hatten die Kerle. Bis heute habe ich Angst vor Pferden!!

Ich hatte die schönste Handschrift der ganzen Klasse und musste allerlei Gedichte und besondere Dinge abschreiben. Die Nonnen mochten Anny und mich sehr. Wir brachten viel Obst für sie mit!! Wir bekamen in Venlo viele Freundinnen und wurden oft zu Kaffeekränzchen eingeladen. Diese wurden in „De Prins“ oder im Casino abgehalten. Das waren die Sozietäten der vornehmsten und der weniger vornehmen Familien (1966 ist es noch genauso!!). Die meisten Mütter gingen mit, saßen woanders und sorgten für Spiele und Leckerbissen.

Am Samstag war Hochbetrieb. Die meisten Bauern aus Baarlo, Tegelen, Grubbevorst, Blerick und anderen Ortschaften fuhren dann mit großen Pferdefuhrwerken zum Markt. Die Bäuerinnen mit großen weißen Mützen. Vor unserem Gartenzaun befand sich ein großer Graben. Die Bäuerinnen setzten sich nacheinander reihenweise einfach da hinein. Rock hoch, Geschäft fallen lassen – plumps - Rock geradeziehen, kein Schlüpfer, einfach weiterlaufen!!

Die meisten Cafés hatten daneben auch einen Laden: Lebensmittel, Fleischerei, Garn und Bänder usw.usw. Die Bezahlungen funktionierten sehr eigenartig. Papa hatte ein Büchlein, in dem das gelieferte Bier stand und auf der anderen Seite alles, was wir im Laden kauften. Wir sorgten dafür, dass beide Beträge gleich waren und bezahlten am Jahresende per Tauschhandel. Bargeld kam darin gar nicht vor. Mama hatte kaum Haushaltsgeld nötig.

Die Mieten der Bauernhöfe wurden auch in Lebensmittel umgesetzt!! Wir hatten einen Dachboden, der über das ganze Haus ging. Überall Regale mit Obst! Auf dem Fußboden überall Obst mit kleinen Pfaden dazwischen. Das ganze Haus duftete herrlich nach Obst.

Papa war sehr beliebt bei den Schulkindern. Viel Fallobst legte er in einen Korb, und wenn die Schule aus war, streute er es über die Straße, mal links, mal rechts. Die Kinder kreischten vor Freude, rollten durcheinander und gingen alle essend nach Hause!

Mein Bruder Emile ging, als er älter wurde, auf die Landwirtschaftsschule. Er hatte viel Freude am Erdbeeranbau. Wir hatten manchmal 70 Pfund am Tag und so viele Freunde wie nie. Alle gingen mit einer Schale Erdbeeren nach Hause, bis mein Bruder erreichte, dass der Knecht zum Markt gehen und verkaufen durfte. Die Einnahmen wurden verteilt: Emile die Hälfte und wir die andere Hälfte! Wir waren im siebten Himmel! Bekamen nie Taschengeld und jetzt auf einmal solche Beträge. Alles kam auf ein Sparbuch, und später kaufte ich davon mein erstes Geschenk für Vater (Piet) [ihr Mann, emk]!!

Zur Kirmes, zweimal im Jahr, mussten wir allen Metzgern im Dorf Fleisch abnehmen, sonst nahmen sie kein Bier ab. Zunge, Kalbsleber, ganze Seitenstücke. Die ließen wir räuchern. Das feinste Rauchfleisch wurde das! Und dann wurde gegessen!! Schon zum Frühstück ein großes Steak. Übrigens gab es das oft am Sonntagmorgen, entweder ein Steak oder herrlich zubereitete Leber in einer Art Weinsauce. Zu Pfingsten nachmittags Erdbeerbowle, pro Flasche Weißwein eine Flasche Champagner kam da rein. Herrlich!!

Papas Brüder aus Reuver und Maastricht kamen mit ihren Frauen und großen Kindern bei uns Kirmes feiern, und wir fuhren zu ihnen, wenn dort Kirmes war. Das waren unsere einzigen Erholungen. Das Bier wurde damals schon mit dem Pferdewagen geliefert! Die Kirschen, Himbeeren, Schwarzen Johannisbeeren wurden oft in Brandwein und Genever eingelegt. Ein Brett im Keller stand voller viereckiger Flaschen, und das ganze Jahr hindurch wurde vor dem Essen davon getrunken.

Papa hatte, genau wie Onkel Guillaume, Jura studiert. Die Stelle in Reuver wurde frei und die Brüder zogen Lose, wer von beiden sich dort bewerben sollte. Der Onkel wurde es. Aber in Blerick half Papa den Bauern bei Verträgen, Testamenten usw. und … wollte hierfür kein Geld annehmen. Und was taten diese Leute??? In Lebensmitteln bezahlen. Wenn sie schlachteten, die leckersten Stücke. Wir hatten manchmal für 500 Gulden an Eiern!

Als ich ungefähr elf Jahre alt war, ging ich ins Internat nach Roermond, zu den Ursulinen in der Voogdijstraat - ein ganz schöner Übergang! Im allgemeinen war ich gern dort.

emk = Eva-Maria Kintzel

Übersetzung aus dem Niederländischen: © Eva-Maria Kintzel van Stokkum (2010)